Ein Interview mit Dr. Stephan Heinrich Nolte – Kinder- und Jugendarzt aus Marburg

Herr Dr. Nolte, die Zahl der Eltern, die ihre Kinder homöopathisch selbst behandeln, steigt an. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Grundsätzlich halte ich es für gut, wenn Eltern ermutigt und befähigt werden, mit den kleinen Beschwerden des Alltags selbst fertig zu werden und nicht unmündig wegen jeder Kleinigkeit den Arzt befragen müssen. Die Kehrseite ist, dass zum einen Eltern oft meinen, dass immer und sofort eine Arznei gegeben werden muss und zum anderen die Zahl der Ratgeber ins völlig Unüberblickbare angestiegen ist. Aus jeder therapeutischen Ecke werden Hilfen zur Selbsthilfe angeboten. Dadurch kommt es zu einer Verwirrung und Verunsicherung der Eltern.

Stephan Heinrich NolteDr. Nolte hat ein Diplom in Homöopathie. Er hat langjährige Erfahrungen in der homöopathischen Behandlung von Kindern und kennt die Grenzen der homöopathischen Selbstbehandlung.

In welchen Fällen halten Sie eine homöopathische Selbstbehandlung für gefährlich?

Im engeren Sinne gefährlich ist eine homöopathische Behandlung nie. Es könnte höchstens passieren, dass eine notwendige andere Therapie verschleppt wird. Das gilt vor allem für Notfälle wie Atemnot, Bewusstseinsstörungen, Schockzustände oder schwere Austrocknung. Wichtig ist in jedem Fall, akute und chronische Erkrankungen auseinanderzuhalten, weil sie einen ganz anderen therapeutischen Zugang benötigen. Eine Krebserkrankung oder ein Leistenbruch kann nicht homöopathisch selbst behandelt werden.

Gibt es Fälle, bei denen Sie zu einer homöopathischen Selbstbehandlung raten?

Voraussetzung ist immer, dass ich das Kind und die Familie sowie ihre Möglichkeiten kenne, den Zustand des Kindes einzuschätzen. Akute Zustände können häufig mit dafür bewährten Mitteln angegangen werden. Dann kann man in vielen Situationen zu einer Selbstbehandlung raten, etwa zur Gabe von Aconitum bei ängstlicher Atemnot beim Pseudokrupp, oder zur Gabe von Arnica bei leichteren Verletzungen, vor allem des Schädels.

Machen homöopathische Medikationen im elterlichen Alleingang Ihre Arbeit komplizierter?

Wenn Kinder wegen chronischer Krankheit, etwa Asthma oder Colitis, homöopathisch behandelt werden, kann ein zwischenzeitlich unüberlegt gegebenes Akutmittel mehr schaden als ein chemisches. Einer der frühen homöopathischen Zeitgenossen Hahnemanns, G.H.G. Jahr, hat schon 1857 geschrieben: „Denn es ist wahrhaftig richtig: Eine Tasse Kaffee oder Kamillentee und Ähnliches kann oft ohne Schaden und ohne Nachteil für die Wirkung selbst der kleinsten homöopathischen Gaben getrunken werden; aber die Einnahme auch der kleinsten Gabe eines neuen Mittels hebt sehr oft, wenn dieses neue auch kein Antidot ist, die Wirkung des vorhergehenden mit großer Bestimmtheit auf.“

Was sagen Sie zu Spielplatzmüttern, die auf jeden kleinen Sturz ihrer Kinder reflexartig mit einer Gabe Arnica reagieren?

Ein kleiner Sturz muss sicher nicht gleich behandelt werden, da ist Trösten wichtiger als Arnica. Wir können mögliche Folgen einer Verletzung, beispielsweise chronische Kopfschmerzen nach einer Schädelverletzung, auch später noch gut behandeln – und wir wissen ja gar nicht, ob es dazu überhaupt kommt. Prophylaktische Homöopathie gibt es nicht. Es braucht immer das „zu Behandelnde“, ein Symptom oder einen Zustand.

Sind Eltern gegenüber dem Arzt im Vorteil bei der homöopathischen Behandlung ihrer Kinder, weil sie diese besonders gut kennen?

Einerseits ja, weil es etwas anderes ist, mit dem Kind zu leben als seine Symptome in Worte zu kleiden und dem Arzt zu beschreiben. Andererseits sind Eltern oft „betriebsblind“, als Außenstehender nimmt man Symptome objektiver wahr.

Können Sie ein Buch für Eltern empfehlen, die den Einstieg in die homöopathische Selbstbehandlung finden möchten?

Meine Frau und ich haben ein Buch mit dem Titel „Homöopathie – Alles Gute für Ihr Kind“, erschienen in diesem Jahr im Oberstebrink-Verlag, geschrieben, welches neben der Einführung in das besondere Heilsystem der Homöopathie auch umfassende Informationen über Kinder in gesunden und kranken Tagen gibt und ein gutes Verständnis der Anliegen der Homöopathie bis hin zur Akutbehandlung vermittelt. Es ist jedoch kein Fahrplan oder Tabellenwerk wie sie heute als „schnelle Wege zum richtigen Mittel“ angepriesen werden, sondern verlangt eine gewisse Beschäftigung mit dem Thema.

Behandeln Sie ihre eigenen Kinder selbst mit Homöopathie?

Meine fünf Kinder sind längst und alle ziemlich gesund erwachsen geworden. Ich habe versucht, sie vor allem im zurückhaltenden Umgang mit jeder medizinischen Errungenschaft zu erziehen. Ob mir das gelungen ist, wird sich erst zeigen, wie sich auch der Erfolg einer homöopathischen Therapie erst nach vielen Jahren durch gute geistige, emotionale und körperliche Gesundheit zeigt, denn eine kurzzeitige und möglicherweise kurzsichtige Symptomkontrolle ist noch keine Heilung.

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