Von Prof. Harald Walach

Es muss im Sommer 1993 gewesen sein, als ich Rainer Lüdtke zum ersten Mal begegnet bin, vielleicht auch ein Jahr früher. Er hatte gerade als Statistiker bei der Carstens-Stiftung angeheuert. Ich hatte gerade meine Promotionsarbeit publiziert, eine experimentelle homöopathische Arzneimittelprüfung mit allen Schikanen, die mir damals eingefallen sind: doppelt verblindet, placebo-kontrolliert, mit Crossover und Baseline und Tagebuch für ein kategoriales Symptomensammelsystem, das idealerweise noch für viele andere Prüfungen herhalten sollte.

Die Studierenden des Wilseder Forums, einer Studentenorganisation, die die Carstens-Stiftung ins Leben gerufen hatte, hatten mich eingeladen in irgendein Kaff in der Lüneburger Heide. Das Taxi setzte mich am Rande des Schutzgebietes ab und ich stapfte ein paar Kilometer durch den Regen zum Tagungshaus, zwischendurch ernsthaft an meiner Mission zweifelnd. Diese Zweifel wurden durch Rainer Lüdtkes methodisch-statistische Kommentare zu meiner Arbeit nicht gerade gelindert. Ich kann mich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern. Mir wurden nur damals Zusammenhänge klar, die mir in einer Fülle von methodischen Beratungen durch Methodiker, Statistiker, Berater und auch meine eigene nicht gerade sparsame Lektüre von methodisch-statistischer Literatur verborgen geblieben waren.

Solche Erfahrungen bleiben haften und sind gewissermaßen ikonografisch. In diesem Fall für die Ikonografie von Rainer Lüdtke als das methodisch-statistische Gewissen der komplementärmedizinischen Forschung.

Rainer_Luedtke_Carstens-Stiftung_Abschied

Selten habe ich auch eine derart gute Kombination von Kritik erlebt, die klar und hart in der Sache ist und doch verbindend und wohlwollend im Ton und in der Beziehung. Mir scheint, es ist eine deutsche Marotte, vielleicht auch eine deutsche Marotte unter Akademikern, mit Kritik auch immer eine subtile, von Häme nicht ganz freie Abwertung des Kritisierten zu verbinden, aus der dann auch gleich noch die Überlegenheit des besser Informierten hervorleuchtet. Nicht umsonst ist „schadenfreude“ neben „angst“, „rucksack“ und „kindergarten“ eines der wichtigsten deutschen Lehnwörter im Englischen (übrigens ist „handy“ mittlerweile dazugekommen). Nichts von alledem habe ich je bei irgendwelcher Kritik gesehen, die von Rainer Lüdtke kam, sei es in meine Richtung oder zu anderen. Auch das ist bildprägend: Seine Kritik ist immer sachlich richtig und persönlich verbindend gewesen und hat vor allem die Sache und das Feld weitergebracht.

Brücke zur Mainstream-Biometrie

Damit wurde er zu einem wichtigen und tragenden Element der noch jungen komplementärmedizinischen Forscherszene. Er bildete sozusagen einen Brückenpfeiler zur Mainstream-Biometrie, die in Deutschland vorgab, wie klinische Studien zu organisieren und auszuwerten sind, brachte er doch das relevante Wissen aus den entsprechenden Zentren in Dortmund und Göttingen mit. Es macht einen großen Unterschied aus, ob man (wie wir Psychologen) Methodik und Statistik als Anwender – sozusagen „ad usum delphini“ – gelernt hat oder von der Picke auf.

Ich habe jedenfalls die Überheblichkeit des Anwenders, der glaubt, er verstehe die Statistik, wenn er weiß, wie er ein Computerprogramm bedienen und die ausgegebenen Daten interpretieren kann, rasch aufgegeben, nachdem ich einige Kontakte mit professionellen Statistikern hatte – und die mit Rainer Lüdtke gehörten zu den lehrreichsten für mich.

Fast eine ganze Generation von Forschern – Doktoranden und Leute, die sich auf dem Gebiet der komplementärmedizinischen Forschung vertieften – haben von Rainer Lüdtkes profundem Wissen profitiert. Bei einer ganzen Reihe von wichtigen Publikationen war er dabei. Dabei hat ihn bis auf wenige Ausnahmen immer das Schicksal des Biometrikers ereilt. Der hat nämlich mit jeder Studie viel Arbeit und Aufwand und wenig Ehre. Sein Platz auf den Publikationslisten ist meistens irgendwo in der „et alii“-Liste der vielen Autoren und selten der Ehrenplatz am Schluss oder wichtige Platz des Erstautors.

Re-Analyse von Shang et al. 2005

Eine der wenigen Ausnahmen ist die wichtige Publikation im Journal of Clinical Epidemiology (Lüdtke, R., & Rutten, A. L. B. (2008): „The conclusions on the effectiveness of homeopathy highly depend on the set of analyzed trials“ (Journal of Clinical Epidemiology, 61, 1197-1204.). In dieser Re-Analyse der viel zitierten Meta-Analyse von Shang und Kollegen aus dem Lancet von 2006 weist Rainer Lüdtke nach, dass den Autoren der originalen Analyse ein wichtiges Detail ihrer eigenen Daten entgangen ist, genauer gesagt, dass sie höchstwahrscheinlich klaren Blickes auf eine normalerweise übliche Austestung der Robustheit ihrer Ergebnisse verzichtet haben. Er liefert die Sensitivitätsanalyse nach, die eigentlich in der originalen Publikation hätte enthalten sein müssen. Diese ergibt, dass dann, wenn man mehr Studien in die Analyse einschließt, als dies Shang und Kollegen getan haben, eine signifikante Überlegenheit von Homöopathie gegenüber Placebo festzustellen ist. Damit zeigte sich, dass die viel beschworene angeblich nachgewiesene Unwirksamkeit von Homöopathie, auf die sich Kritiker gerne stützen, alles andere als nachgewiesen und klar ist.


Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch das folgende
Interview mit Rainer Lüdtke 


Eine Reihe anderer Studien und Projekte hat Rainer Lüdtke federführend mitbetreut und damit die Forschung auf dem Feld befruchtet. Als Schriftleiter der Zeitschrift „Forschende Komplementärmedizin“ war er nicht nur ein wichtiger Gutachter sondern auch ein Torhüter für Studien und Ergebnisse, die es in die Öffentlichkeit schafften und solchen, die den Standards nicht genügten. Damit hat er sich viel Respekt und Anerkennung erworben. Ich kenne keinen im Feld, der an Rainer Lüdtkes Urteil leichten Gewissens vorbeigegangen wäre.

Großer Verlust für die CAM-Forschung

Nun hat er sich für die letzte Hälfte seines professionellen Lebens ein neues Tätigkeitsfeld gesucht und geht in die Projektentwicklung beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Das ist ein Aufstieg. Denn als Statistiker ist und bleibt man der Rechenknecht der Forscher, wenn man nicht die luxuriöse Stelle eines forschenden Statistikers hat – und die sind rar gesät. Für das Feld ist das ein Verlust, ein herber sogar, für Rainer Lüdtke ist es ein Gewinn, den ihm alle gönnen, die ihn kennen. Der Stifterverband hat sich einen klugen Kopf geangelt, die komplementärmedizinische Szene einen engagierten Mann verloren.

Rainer Lüdtke wird nicht leicht zu ersetzen sein und im Moment ist niemand in Sicht, der diese Rolle ausfüllen kann. Weltweit gibt es nur eine Handvoll von Statistikern, die gut genug ausgebildet sind, um die komplexen Forschungsfragen angemessen betreuen zu können und die gleichzeitig ein Interesse an den Themen haben und die obendrein noch meinungsresistent genug sind, um die immer noch weitverbreitete Skepsis gegenüber diesem Gebiet nicht allzu ernst zu nehmen. Wollen wir hoffen, dass ein naturphilosophischer Grundsatz auch hier gilt:

„Die Natur verabscheut das Vakuum.“

Drum strömt immer etwas nach, wenn irgendwo ein Platz frei wird. So, das hoffen wir, irgendwann auch hier. Im Moment ist ein sehr wichtiger Platz frei geworden und im Moment gilt es, dies auszuhalten. Verbunden mit Dank dem gegenüber, der ihn so lange und so konstruktiv gefüllt hat: Rainer Lüdtke, und verbunden mit den besten Wünschen für seinen weiteren Weg.

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