„Jesus Christus“ und „Homöopathie“ sind laut Washington Post die meist umkämpften Wikipedia-Einträge. Es kommt zu sogenannten „Edit-Wars“. Wie frei ist die „freie“ Enzyklopädie in diesen Fällen? Was geschieht, wenn wissenschaftliche Fakten auf Weltanschauungen treffen?

Jens BehnkeJens Behnke, Leiter des Fachbereichs „Netzwerk Homöopathie | Naturheilkunde“ der Carstens-Stiftung ist diesen Fragen anhand des Wikipedia-Eintrags „Homöopathie“ nachgegangen.

Von Jens Behnke

„[Das] Potenzierungsverfahren [der Homöopathie] widerspricht naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Grundprinzip der evidenzbasierten Medizin. […] Auch das hahnemannsche Ähnlichkeitsprinzip ist wissenschaftlich nicht haltbar. Klinische Studien nach wissenschaftlichen Standards konnten keine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel nachweisen. […] Die Homöopathie wird von der wissenschaftlichen Medizin als wirkungslose, in einigen Fällen sogar gefährliche Behandlung abgelehnt. [Sie] wird daher zu den Pseudowissenschaften gezählt.“[1]

Diese Ausführungen entstammen dem Artikel „Homöopathie“ des Online- Nachschlagewerks Wikipedia. Der Text enthält in weiten Teilen unbelegte Behauptungen, tendenziöse Auslassungen sowie offensichtliche Falschdarstellungen. Doch immer der Reihe nach:

Wikipedia ist seit dem Start im Jahr 2001 zum wohl wichtigsten Nachschlagewerk aller Zeiten avanciert: Viele Menschen wenden sich heutzutage zuerst an „Die freie Enzyklopädie“, wenn sie Zugriff auf Informationen unterschiedlichster Art benötigen. Im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung ist die Bedeutung der Webseite daher nicht zu unterschätzen, zumal ihre Inhalte nicht immer kritisch hinterfragt werden.

Die Zuverlässigkeit und Aktualität der gebotenen Artikel soll unter anderem dadurch sichergestellt werden, dass prinzipiell jeder Nutzer an der Enzyklopädie mitarbeiten kann. Im Idealfall tragen so viele Sachkundige ihr Wissen zu einem bestimmten Thema zusammen und versuchen, Wikipedia ständig zu verbessern. Diese Idee funktioniert in aller Regel auch relativ gut, solange es um unstrittige Themen, wie etwa die Funktionsweise eines Verbrennungsmotors geht.

„Edit-Wars“ verhindern Konsensbildung

Was aber geschieht, wenn ein kontrovers diskutierter Gegenstand innerhalb eines Wikipedia-Artikels abgehandelt wird? Normalerweise werden die verschiedenen Positionen argumentativ entfaltet und mit Literaturstellen belegt zur Darstellung gebracht. Im Hintergrund diskutieren User, welche Auffassungen, Formulierungen und Zitate in den Text einfließen sollen. Wikipedia soll letztendlich ausgewogene Informationen bereitstellen; die Urteilsbildung wird dem Leser überlassen.

Solche Aushandlungsprozesse verschärfen sich aber mitunter zu sogenannte „Edit-Wars“: Autoren löschen oder verändern immer wieder die Inhalte, die andere einbringen und vice versa, ohne dass es zu einer Konsensbildung kommt. In dieser Situation greift die Administratorenebene von Wikipedia ein. Es wird versucht, die Diskussion zu moderieren, indem etwa Benutzer, die einen Text immer wieder verändern, ohne hierfür nachvollziehbare Gründe – beispielsweise Belegstellen aus der wissenschaftlichen Literatur – anzuführen, gesperrt werden.

Der Artikel „Homöopathie“ ist laut Washington Post neben dem zu „Jesus Christus“ der am meisten diskutierte.[2] Er hat es daher auch geschafft, Gegenstand einer diskursanalytischen Doktorarbeit [3] zu werden: Dr. Markus Beyersdorff zeigt auf, dass die heutige Gestalt des Textes das Ergebnis erbitterter Auseinandersetzungen ist. Es hat den Anschein, dass eine Gruppe von Homöopathie-Gegnern diese für sich entscheiden konnte, weil sie Einfluss auf die Verwaltung der Wikipedia- Software besitzt: So wurden etwa die Benutzerkonten von Befürwortern der Homöopathie aus zweifelhaften Gründen gesperrt, Studien, die eine Wirksamkeit belegen, immer wieder aus den Literaturangaben gelöscht und der ganze Artikel „eingefroren“, so dass eine weitere Bearbeitung nicht möglich war. Die Regeln des wissenschaftlichen Disputs wurden vielfach unterlaufen, so dass es zu der vorliegenden, mehr als einseitigen Darstellung gekommen ist: Wikipedia ist in Bezug auf die Homöopathie eine Plattform, auf der eine Gruppe von Menschen ihre persönliche Überzeugung unter dem Deckmantel der Wissenschaft vorträgt. Mutmaßlich handelt es sich hierbei um Mitglieder der sog. „Skeptikerbewegung“, einer Organisation, die in dogmatischer Art und Weise eine materialistische Weltanschauung verficht und sämtliche Phänomene zu leugnen versucht, die sie mit ihr im Konflikt sieht. Für die aus den USA stammende Ursprungsbewegung sind zudem Verbindungen zur Pharmaindustrie aufgezeigt worden. [4]

Positive Homöopathie- Studien werden unterschlagen

Ohne diese Hintergründe ist es beispielsweise nicht verständlich, dass Wikipedia behauptet, es existierten keine Belege für eine Wirksamkeit der Homöopathie: Von den für die wissenschaftliche Medizin besonders wichtigen Übersichtsarbeiten, welche die Ergebnisse vieler klinischer Studien zusammenfassen, werden im Artikel genau drei genannt: Eine mit einem eindeutig positiven Ergebnis für die Homöopathie, [5] das aber im Text vollständig nivelliert wird, die Arbeit eines notorischen Homöopathiekritikers, die aber in Fachkreisen aufgrund ihrer Mängel keinerlei Beachtung findet, [6] und zu guter Letzt die wohl bekannteste wissenschaftliche Veröffentlichung zum Thema Homöopathie von Aijing Shang und Kollegen aus dem Jahre 2005. [7]

Die letztgenannte Arbeit kam durch die Auswertung von lediglich 8 großen aus zunächst 110 in den Blick genommenen Studien zu einem für die Homöopathie negativen Ergebnis. Sie wurde aufgrund intransparenter und willkürlicher Auswahlkriterien in wissenschaftlichen Kreisen kritisiert: Es konnte gezeigt werden, dass das Negativergebnis maßgeblich von einer großen Studie abhing, deren Methodik nicht unbedingt den Regeln der homöopathischen Behandlung entsprach, und dass die Auswertung der größten 10, 15 oder 20 Studien von hoher Qualität zu einem positiven Ergebnis für die Homöopathie führte. [8, 9]

Die Autoren dieser Übersichtsarbeit schienen sich also schon im Vorfeld der Untersuchung auf das gewünschte Resultat geeinigt zu haben, um danach einen Weg zu suchen, auf dem man zu ihm gelangen konnte. Von dieser stichhaltigen Kritik an der Veröffentlichung von Shang und Kollegen ist auf Wikipedia nichts zu finden.

Keinerlei Erwähnung finden in dem Artikel auch die übrigen drei großen Übersichtsarbeiten zur Homöopathie, die jedem bekannt sind, der sich mit der Materie auseinandersetzt. [10, 11, 12] Sie alle haben ein mehr oder weniger positives Ergebnis. Zusammengefasst stehen somit einer methodisch mangelhaften Übersichtsarbeit mit ungünstigem Resultat für die Homöopathie vier gegenüber, die auf eine Wirksamkeit schließen lassen. Der Anästhesist und Intensivmediziner Prof. Robert G. Hahn konstatiert im Hinblick auf die klinische Forschung zur Homöopathie dementsprechend: „Um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, die Homöopathie habe keine klinischen Effekte, müssen mehr als 90 Prozent der verfügbaren klinischen Studien außer Acht gelassen werden.“ [13]

Ähnliche Verhältnisse müssen in Bezug auf den größten Teil des Textes zur Homöopathie auf Wikipedia festgestellt werden: Es handelt sich keineswegs um eine neutrale Präsentation zuverlässiger Informationen zum Thema, sondern vielmehr um eine wahrheitswidrige Negativdarstellung, welche die wissenschaftlichen Fakten absichtlich außer Acht lässt. Die Moderatoren der Webseite verhindern bis heute die zahlreichen notwendigen Richtigstellungen und Ergänzungen des Artikels, wie zuletzt der homöopathische Arzt Dana Ullman in der Huffington Post festfeststellte. [14] Es ließe sich trefflich darüber spekulieren, wer Interesse daran haben könnte, die Homöopathie öffentlich zu diskreditieren. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang weiterhin, welche Möglichkeiten Wikipedia bietet, die öffentliche Meinung in großem Maßstab zu manipulieren. Glücklicherweise scheint die Meinungsmache im Internet keinen bedeutenden Einfluss auf die Patienten zu haben: Die Homöopathie steigt nach wie vor in der Beliebtheit der Bevölkerung. [15] Kein Wunder, denn ihre Heilerfolge lassen sich nicht wegdiskutieren!

Fußnoten

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6 opathie. Abgerufen am 30.01.2015

2 www.huffingtonpost.com/dana-ullman/ dysfunction-at-wikipedia-_b_5924226.html. Abgerufen am 30.01.2015

3 Beyersdorff, Marius (2011): Wer definiert Wissen? Wissensaushandlungsprozesse bei kontrovers diskutierten Themen in „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ – Eine Diskursanalyse am Beispiel der Homöopathie. Berlin: LIT Verlag.

4 Walker MJ: Dirty medicine: Science, big business and the assault on natural health care. London, Slingshot, 1994.

5 Linde K, Clausius N, Ramirez G, Melchart D, Eitel F, Hedges LV, Jonas WB: Are the clinical effects of homoeo-pathy placebo effects? A meta-analysis of placebo-controlled trials. Lancet 1997, 350: 834–843.

6 Edzard Ernst: A systematic review of systematic reviews of homeopathy. British Journal of Clinical Pharmacology 54 (2002), 577–582, PMID 12492603

7 Shang A, Huwiler-Muntener K, Nartey L, Juntherapiesi P, Dorig S, Sterne JA, Pewsner D, Egger M: Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy. Lancet 2005, 366: 726–732.

8 Lüdtke, R. & Rutten A.L. (2008): The Conclusions on the Effectiveness of Homeopathy Highly Depend on the Set of Analyzed Trials. In: Journal of Clinical Epidemiology, 61(12), 1197-204.

9 Rutten ALB & Stolper CF: The 2005 Meta- Analysis of Homeopathy: The Importance of Postpublication Data. In: Homeopathy, 2008, 97 (4), 169–177.

10 Mathie RT, Lloyd SM, Legg LA, Clausen J, Moss S, Davidson JR, Ford R: Randomised placebo-controlled trials of individualised homeopathic treatment: systematic review and metaanalysis. Systematic Reviews 2014, 3: 142. doi:10.1186/2046-4053-3-142

11 Kleijnen J, Knipschild P, ter Riet G: Clinical trials of homoeopathy. BMJ 1991, 302: 316–323.

12 Boissel JP, Cucherat M, Haugh M, Gauthier E: Critical literature review on the effectiveness of homoeopathy: overview of data from homoeopathic medicine trials. In Homoeopathic Medicine Research Group, Report of the Commission of the European Communities, Directorate-General XII – Science, Research and Develop-ment, Directorate E – RTD Actions. Brussels, Belgium: Life Sciences and Technologies – Medical Research; 1996.

13 Hahn, R. G. (2013): Homeopathy: Meta- Analyses of Pooled Clinical Data. In: Forschende Komplementärmedizin, 20 (5), 376-381.

14 www.huffingtonpost.com/dana-ullman/ dysfunction-at-wikipedia-_b_5924226.html. Abgerufen am 30.01.2015 15 http://bit.ly/1LD5f0r. Abgerufen am 30.01.2015