Die homöopathische Fallaufnahme – die Erstanamnese

Der Ablauf einer homöopathischen Erstanamnese ist nicht willkürlich, sie besteht aus verschiedenen Elementen. Allerdings ist sie in Aufwand und Inhalt abhängig vom jeweiligen Patienten und seinem Krankheitsfall. Im Verlauf der Anamnese entsteht ein Gesamtbild des Patienten, welches die Grundlage für die Wahl des individuell passenden homöopathischen Einzelmittels ist. Im Grunde beginnt die Anamnese mit dem ersten Händedruck von Patient und Arzt, denn auch das Verhalten und Aussehen eines Menschen geben wertvolle Informationen für die Arzneimittelfindung.

Der Spontanbericht

Am Anfang der Fallaufnahme steht der Spontanbericht des Patienten. Hier gehört jede Beobachtung hinein, die der Patient an sich festgestellt hat. Möglichst genau und vollständig sollte berichtet werden, auch wenn sich vielleicht manches banal und nebensächlich anhört. Es gibt auch unangenehme Wahrheiten oder peinliche Symptome und Verhaltensweisen, die auf den Tisch müssen, damit das entstehende Gesamtbild ein realistisches wird. Der Behandler wird den Bericht nicht unterbrechen, sich aber ununterbrochen Notizen machen. 
Nach diesem Spontanbericht wird es noch viele offene Fragen geben, die der Patient – bei Kindern die Eltern – zu beantworten haben. Es geht zum Beispiel um Fragen zur Lebensgeschichte, zu Erkrankungen in der Familie und der gesamten Krankheitsvorgeschichte. Darüber hinaus interessieren die sogenannten Modalitäten, dies sind die verschlechternden und bessernden Einflüssen und Situationen, von jedem Symptom.

Die nächsten Schritte nach der Anamnese

In einer homöopathischen Arztpraxis wird nach der Erstanamnese oft noch eine körperliche und technische Untersuchung gemacht. Durch die klinische Diagnostik und den eventuellen gezielten Einsatz technischer Mittel wird die Untersuchung präzisiert. Eine weitergehende Such- oder Ausschlussdiagnostik ist selten notwendig. Dadurch werden Risiken und Kosten vermindert, ohne die diagnostische Präzision einzubüßen. Patienten mit Störungen ohne dauerhafte Organveränderungen können vor riskanten und unergiebigen diagnostischen Prozeduren und einem möglichen Festhalten an körperlichen Erklärungsversuchen bewahrt werden. Der direkte Weg von der homöopathischen Erstanamnese über die Fallanalyse zum individuell gewählten Arzneimittel erlaubt einen sofortigen gezielten Therapiebeginn, selbst wenn weitere diagnostische Schritte notwendig sein sollten.

Die Fallanalyse

Wenn die Anamnese abgeschlossen und alle für die weitere Behandlung notwendigen Daten erhoben sind, wird der homöopathische Arzt den Fall analysieren. Wie ein Detektiv begibt sich der homöopathische Arzt auf Spurensuchen, um aus der Vielzahl der Symptomen und Beobachtungen ein Ganzes zu machen, mit dem Ziel, dass eine individuelle Arzneimittel zu finden. Der Patient nimmt daran nicht teil. Nun werden alle Informationen des Krankheitsfalls gesichtet und in ihrer Bedeutung bewertet. Die charakteristischen Symptome, also die Beschwerden und besonderen Ausprägungen, die den Einzelfall von vergleichbaren Fällen unterscheiden, werden ausgewählt und gewichtet und in eine Rangliste gebracht. Nicht alle Symptome sind für die Arzneifindung gleich wertvoll.

Repertorisation – die Suche nach der Ähnlichkeit

Nachdem nun alle Symptome ausgewählt und gewichtet sind, wird in einem Symptomenlexikon, in dem die zugehörigen Arzneimittel aufgelistet sind, dass Mittel herausgesucht, dass in seinem Arzneimittelbild die größte Ähnlichkeit zu den Symptomen des Patienten aufweist. Diesen Arbeitsschritt nennt man Repertorisation, das Lexikon Repertorium. Es gibt verschiedene Hilfsmittel – gemäß der Zeit sind verschiedene Software-Programme auf dem Markt – die diese Arbeit des Homöopathen unterstützen. Der Zeitaufwand für die Mittelsuche kann eine Stunde und mehr dauern. Nun werden die wichtigsten Arzneimittel aus der Repertorisation in einem letzten Schritt mit den Arzneimittellehren – der sogenannten Materia Medica – verglichen. Dies sind Verzeichnisse der Symptome und Indikationen der einzelnen Arzneien.

Das verordnete Arzneimittel

Nach der Auswahl des passenden Arzneimittels für den individuellen Krankheitsfall wird die Anwendungsweise – meistens in Form von Globuli oder Tropfen – die Potenz und die Art der Wiederholung festgelegt. Die D- und C-Potenzen werden in der Regel einmalig gegeben und erst nach einer Verlaufsanalyse – nach deutlicher Wirkung und Wiederauftreten von Beschwerden – wiederholt. Die Q- oder LM-Potenzen werden anfänglich regelmäßig gegeben, in Menge und Intervall aber an den Einzelfall angepasst.

Der Heilungsverlauf

Bei schon lange bestehenden chronischen Erkrankungen kann sich auch der Prozess der Heilung über einen längeren Zeitraum hinziehen. Oft bessert sich das allgemeine Befinden im Verlauf einer Erstverschlimmerung, die Lokalbeschwerden hingegen verschlechtern sich aber. Der zeitliche Heilungsverlauf in der Homöopathie ist so individuell, wie der Mensch, der behandelt wird. Die Art und Weise aber, wie die Heilung erfolgen soll, unterliegt einer Gesetzmäßigkeit: Der Heringschen Regel. Diese Regel – nach ihrem Entdecker Constantin Hering (1800 – 1880) benannt – besagt, dass bei der Heilung einer Krankheit die Symptome „von oben nach unten, von innen nach außen und in der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens“ verschwinden werden.
Von oben nach unten: Ein Hautausschlag heilt demnach zuerst am Oberkörper ab, bevor auch die Beine und später die Füße keine Symptome mehr zeigen. 
Von innen nach außen: Die Heilung beginnt bei der Psyche, geht über zu den lebenswichtigen inneren Organen, es folgt der Bewegungsapparat und zum Schluss heilt die Haut. 
In der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens: Jüngere Krankheiten heilen vor schon seit längerem bestehenden Erkrankungen ab. Der Regel folgend, wird die Krankheitsgeschichte des Patienten rückwärts aufgerollt.

Beobachtungen im Behandlungsverlauf

Zu Beginn der Behandlung kann es zum Auftreten einer so genannten Erstreaktion oder auch Erstverschlimmerung kommen. Sie macht deutlich, dass die gewählte Arznei tatsächlich mit dem kranken Organismus in heilende Resonanz tritt. Diese Reaktion ist meist darauf zurückzuführen, dass die gewählte Höhe der Potenz des Arzneimittels über der idealen Wirkstärke liegt, auf welche der Patient im Moment der Einnahme problemlos reagieren kann.

Oft beschreiben Patientinnen und Patienten unter der Wirkung ihrer Arznei auch zunächst ein Gefühl tiefer Müdigkeit, gerade so, als würde sich der Organismus in sich selbst zurückziehen, um dann mit gesammelten Kräften die Wende zur Heilung einzuleiten.

Wie bei der Arzneifindung selbst ist Ihr homöopathischer Arzt in den Stunden, Tagen und Wochen darauf angewiesen, dass Sie als Pa tientin  oder Patient genau beobachten, ob und wie sich Ihr Symptombild und Befinden verändert. Hier gibt es grundsätzlich vier Reaktionsmöglichkeiten:

Ihre Krankheitssymptome und Ihr Befinden oder Ihre Energie werden besser.

Dies ist natürlich das, was Sie selbst gewünscht und erwartet haben. Im Idealfall spüren Sie eine Stärkung Ihrer Energie, Sie fühlen sich frischer, Sie schlafen vielleicht besser, Sie sind psychisch besser drauf und auch die konkreten Symptome der Krankheit werden nacheinander besser und verschwinden schließlich vollständig. Dabei erfolgt die Besserung oft entsprechend der sogenannten Heringschen Regel, nämlich „von oben nach unten, von innen nach außen und in der umgekehrten Reihenfolge der Entstehung der Symptomatik“:

Ein Hautausschlag kann zum Beispiel zuerst im Gesicht besser werden, während die sichtbaren Erscheinungen an den Beinen noch am längsten bestehen bleiben.

Eine asthmatische „innere“ Symptomatik wird als erstes besser, während der Hautausschlag „außen“ vielleicht sogar vorübergehend noch etwas schlimmer wird, dann aber später auch verschwindet.

Die jüngste Symtomatik, zum Beispiel ein Ekzem, wird als erstes besser, während die bereits viel länger bestehenden Menstruationsbeschwerden erst nach längerer Zeit ebenfalls deutlich nachlassen.

Es zeigt sich keine Veränderung in der Symptomatik

Vorausgesetzt, der Entfaltung der Mittelwirkung wurde ausreichend Zeit gelassen und das Arzneimittel war korrekt hergestellt: Sie müssen leider davon ausgehen, dass die Arznei nicht richtig gewählt war.

Dies kann unter anderem daran liegen, dass das Mosaik der Symptome am Anfang nicht vollständig war, um das besser passende Mittel zu finden. Bitte beobachten Sie nochmals sehr genau die Einzelheiten Ihrer Beschwerden entsprechend der Aspekte des Ü vollständigen Symptoms, damit Sie Ihrem Arzt noch weitere wichtige Mosaiksteinchen nachliefern können!

Eine fehlende Reaktion auf die Arznei kann ihren Grund aber auch darin haben, dass die Potenzhöhe falsch, meist zu niedrig, gewählt wurde.

Ein Teil der Beschwerden wird besser, ein anderer Teil bleibt unverändert oder wird schlechter.

Dies bedeutet, dass die gewählte Arznei dem Mosaik Ihrer Symptome zwar recht ähnlich war, dass es aber vermutlich noch ein besser passendes Einzelmittel geben muss, welches dann die ganze Krankheit zur Heilung führt. Ihr Homöopath  müssen jetzt besonders genau überlegen, ob vielleicht bei einer Wiederholung der Arznei auch noch der verbliebene Rest der Erscheinungen verschwinden kann, ob ein Ergänzungsmittel für diesen Rest nahe liegt, oder ob es ganz in der Nähe diejenige Arznei gibt, die von Anfang an zu verschreiben gewesen wäre. Es kann aber auch sein, dass Teile des Krankeitsbildes (homöopathisch) unheilbar sind und möglicherweise andere Behandlungsansätze zur Anwendung kommen müssen, wie zum Beispiel Osteopathie, Psychotherapie oder spezielle Schmerztherapie.

Es wird nichts besser, dafür treten neue Symptome auf.

In diesem Fall war die Arznei ebenfalls nicht richtig gewählt, sie ist aber immerhin in der Lage, eine – unfreiwillige! – Arzneimittelprüfung bei Ihnen auszulösen. Das bedeutet, dass Sie neben Ihrer eigentlichen Krankheit nun auch noch Symptome der Arznei entwickelt haben. Diese verschwinden aber in der Regel auch von selbst wieder; sie können freilich auch längere Zeit bestehen bleiben, wenn die Arznei in hoher Potenz verabreicht worden war. Auch in diesem Fall muss Ihr homöopathischer Arzt Ihr Symptomen-Mosaik nochmals sehr genau mit Ihnen durchsprechen und eine neue Arznei finden.

Es gibt aber auch Fälle, in denen „neue“ Symptome auftreten, die sich bei genauer Nachfrage als „alte“ Symptome entpuppen, an die der Patient schon längst nicht mehr gedacht hatte. Kommen tatsächlich ganz neue Symptome zum Vorschein, so können sie in den Überlegungen Ihres Homöopathen wesentlich zum Auffinden der noch besser passenden Arznei beitragen.

Die Verlaufsanalyse und Folgeanamnese

Nachdem die erste Arzneimittelgabe genommen wurde, muss die Mittelwirkung genau beobachtet werden. Die Wirkung jeder Gabe muss genau beurteilt werden, bevor sie wiederholt oder aber durch eine andere Arznei ersetzt wird. Manchmal müssen die Ergebnisse der Erstanamnese überprüft oder an einer bestimmten Stelle noch einmal hinterfragt werden. Dazu ist in jedem Fall ein neuer Kontakt des Patienten mit seinem Arzt nötig. Dies geht in manchen Fällen telefonisch, muss aber eine zweite oder dritte Verordnung erarbeitet werden, geschieht dies nach denselben Prinzipien: Folgeanamnese, Symptomwahl, Repertorisation, Vergleich mit den Arzneimittellehren, Festlegung der Arzneigabe.
Eine ausführliche Erstanamnese ist, wie das Wort sagt, nur zu Beginn einer homöopathischen Behandlung erforderlich. Die weiteren im Behandlungsverlauf erforderlichen diagnostischen Gespräche mit dem Patienten werden als Folgeanamnese bezeichnet. Folgeanamnesen sind immer bei einer Veränderung der Symptomatik oder bei mangelhafter Wirksamkeit der eingeleiteten Therapie erforderlich. Auch bei einem guten Behandlungsverlauf im Sinne einer Verbesserung der Symptomatik ist in gewissen Abständen, zu Beginn einer Therapie chronischer Erkrankungen schon nach drei bis sechs Wochen eine Folgeanamnese notwendig. Bei Auftreten einer neuen Erkrankung oder bei einem wesentlichen Wandel in der Symptomatik wird in der Regel eine neue Erstanamnese notwendig.

Wann und wie vollständig wirkt Homöopathie? hier geht es weiter…