Berlin, 11. Oktober 2022. „Der Streit um die Homöopathie spitzt sich zu“, teasert der SPIEGEL seine Geschichte an – und weiter geht`s mit der Aussage: „Nachdem für die meisten Wissenschaftler erwiesen ist, dass die Homöopathie auf einem Placeboeffekt beruht“, kommt Karl Lauterbach zu Wort: „Man sollte den Kassen schlicht verbieten, die Homöopathie zu bezahlen.“  – Diese Passage stammt aus dem SPIEGEL vom 10. Juli 2010. Heute, Mitte Oktober 2022, versucht Lauterbach weiterhin, die Homöopathie aus dem System zu verdrängen. Allerdings nun als Minister und damit mit mehr Durchsetzungskraft. Wiederum im SPIEGEL heißt es jetzt: „Obwohl die Homöopathie vom Ausgabenvolumen nicht bedeutsam ist, hat sie in einer wissenschaftsbasierten Gesundheitspolitik keinen Platz …Deshalb werden wir prüfen, ob die Homöopathie als Satzungsleistung gestrichen werden kann.“

Der Begriff der „wissenschaftsbasierten Gesundheitspolitik“ taucht hier auf, bei den Grünen heißt das „evidenzbasierte Politik“. Aber was ist das? Politische Entscheidungen und die daraus entstehenden Handlungen entstehen aus Prozessen, Diskussionen und Abstimmungen. Wissenschaft kann Orientierung geben, sie bietet auch häufig verschiedene Perspektiven. Aber Wissenschaft als Doktrin? So wird sie in der Auslegung von Lauterbach beliebig, sie wird eingesetzt, wie sie in die eigene Politik passt. Das ist wissenschaftsfeindlich und brandgefährlich. Und überhaupt: Von welcher Wissenschaft sprechen Mai Thi in ihrer Show, Lauterbach in seinem Ministerium, Grams in ihrer GWUP? Die Süddeutsche Zeitung (SZ) gibt am 8. Oktober die Antwort in einem Kommentar: von der Naturwissenschaft. Da heißt es, wenn die Kassen Homöopathie erstatten und sie damit adeln, würden die Grenzen der Naturwissenschaft aufgeweicht und dies öffne die Türen für wissenschaftsfernes Denken, „das mitunter kurios ist und manchmal leider auch sehr gefährlich werden kann für die Gesundheit Einzelner und den demokratischen Zusammenhalt aller.“ Hier wird gewarnt im Stile von Lauterbach, hier wird mit Ängsten gespielt und ein Bogen geschlagen, der in der Tat „kurios“ ist. Hier werden Patient:innen und Therapeut:innen, die Homöopathie anwenden, zu Extremisten, die die Demokratie in unserem Land gefährden!

David Sackett entwickelte die Evidenzbasierte Medizin (EbM) und stellte sie auf drei gleichberechtigte Säulen: die externe Evidenz der Studien, die interne Evidenz der klinischen Expertise des Arztes / der Ärztin und drittens die Patientenpräferenz. Sackett warnte schon früh vor der Tyrannei der externen Evidenz, da sie ohne Berücksichtigung der beiden anderen Säulen durch reine Faktenanwendung die Medizin unmenschlich mache und die Präferenzen des Patienten und die Fähigkeiten des Arztes unberücksichtigt blieben. In der Gesundheitspolitik wird nicht nur von Wissenschaft gesprochen, dort wird der Blick rein auf die Naturwissenschaften verengt. Nicht auf Erfahrungswissenschaft, Sozialwissenschaft, Geisteswissenschaft – nein, auf Naturwissenschaft, die die Grundlage für politische und medizinische Handlung sein soll. Aber wie stabil ist diese Grundlage? Wie gut funktioniert eine Medizin, die sich so unantastbar und alternativlos darstellt? Dieser Frage wurde im April 2022 im Journal of Clinical Epidemiology nachgegangen. Grundlage der Untersuchung waren sogenannte Cochrane-Reviews, in denen die verfügbare wissenschaftliche Evidenz zu Fragestellungen aus allen Bereichen der Gesundheitsversorgung zusammengefasst werden.

Fazit: Die wenigsten Gesundheitsinterventionen – nämlich nur 5,6 Prozent (!) – die in den jüngsten Cochrane Reviews untersucht wurden, sind durch qualitativ hochwertige Evidenz gestützt, Schäden würden zu wenig gemeldet.

Der eingeengte Blick von Lauterbach oder des SZ-Autors zeigt sich auch an der Frage, welche Studien herangezogen werden (und welche nicht!), und das bestätigt Sacketts Weitblick von der Tyrannei der externen Evidenz. Wird in einer Versorgungsforschungs-Studie etwa gezeigt, dass Homöopathie Antibiotika einsparen und dem Sozialsystem viel Geld sparen kann, wird dies nicht wahrgenommen, nicht aufgegriffen und nicht vertieft. Es wird bestenfalls lächerlich gemacht. Selbst die aktuelle S3 Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), in der der Homöopathie ein Evidenzlevel 2b bescheinigt wird, wird ignoriert – oder bekämpft. Oder die Wünsche der Patient:innen. Warum wird nicht mehr nachgefragt und erforscht, warum Patient:innen komplementärmedizinische Verfahren, wie etwa Homöopathie, stark nachfragen? Eins ist sicher, Patient:innen wünschen sich die Gleichberechtigung von konventioneller und komplementärer Verfahren – hier geht`s nicht um Ablehnung, sondern um Vielfalt.

Ist es demokratisch, wenn Jahr für Jahr repräsentativ gezeigt wird, dass die Bevölkerung eine große Affinität zur Homöopathie hat, und dies nicht zu berücksichtigen? Warum sollen freiwillige Kassenleistungen verboten werden, wenn sich 62 Prozent der Bevölkerung für die Kassenerstattung Homöopathie aussprechen? Und wäre es nicht spannend zu erforschen, wie viel Geld der Allgemeinheit durch eine konsequente homöopathische Behandlung erspart wird? Homöopathie ist in Deutschland in einem gut funktionierenden System eingebettet. Wirksam, wissenschaftsbasiert, sicher und von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert – das sollte auch so bleiben.