Ein Beitrag von Dr. med Ulf Riker, Internist und homöopathischer Arzt aus München

Die Kritik an der Homöopathie ist immer dieselbe: weil in den homöopathischen Arzneien ab einer bestimmten Potenzhöhe kein molekulares Wirkprinzip enthalten sei, könne die Wirksamkeit der Homöopathie nur auf einem Placebo-Effekt beruhen. Klingt einleuchtend und erinnert an Christian Morgenstern: „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“

Was wie eine einfache logische Schlussfolgerung aussieht ist in der Tat viel komplizierter. So geht die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) davon aus, dass „bis zu 70 % der Symptomverbesserung bei Medikamentengabe auf unspezifische Placebo-Effekte zurückzuführen“ sei, und zwar nicht im Bereich Homöopathie, sondern im Rahmen von konventionellen Therapieverfahren. Deshalb gibt es inzwischen sogar Überlegungen, wie der Placebo-Effekt im Rahmen konventioneller medikamentöser Therapien verstärkt werden könnte.

Offene Fragen in der Placebo-Forschung

Andererseits sind die derzeitigen Forschungsergebnisse zum Thema „Placebo“ zwar äußerst spannend, lassen aber noch mehr Fragen offen als sie beantworten können. Völlig unklar ist beispielsweise, welche konkreten Faktoren des Anamnese-Settings mit besonders hoher Placebo-Wirkung korreliert sind bzw. was womöglich zum Gegenteil, also zu einer Nocebo-Reaktion führen kann. Oder: welche Persönlichkeitsmerkmale machen einen Patienten zu einem „guten“ Placebo-responder?  Wie lange hält eine Placebo-Wirkung in der Regel an? Und von welchen Faktoren ist die „Haltbarkeit“ der Placebo-Wirkung abhängig?  Warum sollen kleine weiße Zuckerkügelchen denselben Suggestiveffekt haben wie rote oder blaue Tabletten oder gar Injektionen? Welche Aspekte machen die Überzeugungskraft eines Chefarztes im weißen Kittel aus und worin liegt der besondere Reiz eines Homöopathen? Wie stark ist die Placebo-Reaktion bei einem erfahrenen und anerkannten Psychotherapeuten und wie lässt sie sich  unterscheiden vom bestenfalls eher zufälligen Psychotherapie-Effekt in einer homöopathischen Praxis ohne spezielle Psychotherapiekompetenz? Wir sehen: mehr offene Fragen als schlüssige Antworten. Ähnlich also wie in der Homöopathie. Wie originell aber ist es, den Unklarheiten im hochkomplexen Therapiesystem Homöopathie dadurch zu begegnen, indem man sie auf ein anderes Forschungsfeld mit ähnlich vielen Unklarheiten verschiebt? Aus den Augen, aus dem Sinn?

Wissenschaftliche Neugier

Neben solchermaßen grundsätzlichen Überlegungen erinnert das argumentative Vorgehen von Homöopathie-Kritikern – sofern es nicht ausschließlich ideologisch geprägt ist – an die bekannte Parabel des Astrophysikers Sir Arthur Eddington: Ein Fischkundler analysiert den Fang in seinen Netzten und  kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass alle Fische größer sind als 5 Zentimeter. Die Antwort auf den Einwand, das liege vermutlich an der Maschenweite seines Netzes beantwortet er schlicht: „Was ich in meinem Netz nicht fangen kann, liegt prinzipiell außerhalb fischkundlichen Wissens“. Wenn mir also nicht einleuchtet, dass es neben einem überall in der Medizin vorkommenden Placebo-Effekt ein weiteres Wirkprinzip der Homöopathie geben kann, dann kümmere ich mich auch nicht mehr darum, ich stelle keine Fragen mehr, ich gebe mich mit meinen einfachen Antworten zufrieden und erkläre weitere Forschung für überflüssig, ich lege meine wissenschaftliche Neugier ad acta. Aber verdient wissenschaftliche Beachtung, wer sich (ähnlich wie Trump: Den Klimawandel gibt es nicht! Das ist eine Erfindung der Chinesen!) derart simpel von jeder phänomenologischen Realität verabschiedet?

Behandlungsverläufe: nicht mit Placebo-Effekt zu erklären

Denn was fangen erfahrene homöopathische Ärztinnen und Ärzte Tag für Tag in ihren Netzen?

  • Da gibt es natürlich die Flops: Arznei bringt keine Besserung, Symptome sind unverändert. Findige Kritiker der Homöopathie sagen jetzt: kein Wunder! Ist ja auch nix drin, was also sollte wirken? Aha, denkt sich der aufgeklärte Patient: wenn was besser wird, dann ist es Placebo, wenn es nicht besser wird, dann liegt es am Wesen der Homöopathie…. ein bisschen willkürlich vielleicht?
  • Es gibt homöopathie-begeisterte Patientinnen mit rascher, aber leider nur kurzer subjektiver Besserung bei unveränderten objektiven Befunden. Selbstverständlich ist das zu wenig und spricht eindeutig für einen Placebo-Effekt. Ein solcher lässt sich manchmal sogar mehrfach hintereinander auslösen, ohne dass sich das Krankheitsbild relevant bessert.
  • Es gibt homöopathie-kritische Patienten („meine Frau schickt mich zu Ihnen“), bei denen eine homöopathische Arznei sehr deutlich und zeitnah objektive und subjektive Beschwerden und Symptome zum Verschwinden bringt, was dann am meisten den Patienten selbst überrascht.
  • Wir kennen Fälle, an deren Beginn eine hohe Erfolgserwartung steht, bei denen aber die gewählte Arznei anfänglich überhaupt keinen Effekt zu zeigen scheint, eine Besserung stellt sich ausgesprochen langsam ein und erfordert von allen Beteiligten viel Geduld.
  • Manchmal kommt es vor, dass sich nur eine relativ unbedeutende Nebenbeschwerde rasch bessert, während die eigentliche Hauptsymptomatik auf die Arznei überhaupt nicht reagiert. Verzögert kann es zu einem späteren Zeitpunkt noch zu Besserungen kommen, ein positiver Effekt tritt aber trotz bester Umgebungsbedingungen nicht ein. Vermutlich ist die Ähnlichkeitsentsprechung der Arznei nicht hoch genug … oder das Placebo weiß nicht, was es will?
  • Bekannt sind auch Verläufe, in denen sich trotz hoher Patientenerwartung nicht nur die eigentlichen Beschwerden nicht bessern, sondern unter Homöopathie noch zusätzliche Beschwerden hinzutreten. Oft lassen sich diese „neuen“ Beschwerden aus dem Arzneimittelbild der (falsch) verordneten Arznei erklären, was der Patient aber gar nicht wissen konnte.
  • Oftmals bessern sich subjektive und objektive Beschwerden nur teilweise unter einer gewählten Arznei, der verbleibende Rest „gehorcht“ aber überraschenderweise nicht der Placebo-Logik und reagiert erst auf die zusätzliche Gabe einer zweiten oder dritten (anderen) Arznei.
  • Es kann vorkommen, dass sich objektive Befunde bessern, der Patient damit aber gar keine subjektive Erleichterung in Verbindung bringt. Wer oder was hat den Placebo-Effekt behindert?
  • Gar nicht selten bestehen bei Behandlungsbeginn hohe Erwartungen an die Homöopathie, aber mehrere gewählte Arzneien bleiben ohne jeden Effekt. Erst eine – durch eine neue Zusatzinformation entdeckte – weitere homöopathische Arznei bringt den Durchbruch jetzt, obwohl die Voraussetzungen für eine Placebo-Wirkung längst deutlich geschrumpft sind.
  • Und natürlich gibt es Verläufe, in denen leidenschaftliche Homöopathen bei „gläubigen“ Patienten überzeugende Verläufe der Besserung dokumentieren können. Und natürlich werden dabei – wie überall in der Medizin – auch mehr oder weniger große Placebo-Effekte im Spiel sein. Solche Verläufe sind nicht unbedingt die Regel, aber wenn sie vorkommen, dann entsprechen sie dem schlichten und linearen Modell unseres bisherigen Placebo-Wissens: ausreichend Zeit für Zuhören und Gespräch + angenehmes Ambiente + Suggestibilität = „Regression zur Mitte“ oder Spontanheilung oder eben einfach nur Placebo.

Seriöse Homöopathie

Seriöse Homöopathie setzt voraus, dass es nicht nur „dem Patienten besser geht“, sondern dass sich auch objektive Befunde normalisieren sollten, weil nur daraus ausreichende Therapiesicherheit für den Patienten resultiert.  Wenn wir davon ausgehen, dass Placebo-Reaktionen über Neurotransmitter und deren Interaktionen zustande kommen, also im weitesten Sinne auf psycho-neuro-immunologischer Ebene ablaufen, dann scheint es ohne Zweifel plausibel zu sein, dass nicht nur Schmerzen, sondern auch allergische, entzündliche, immunologische, vegetative Krankheitsbilder einer Placebo-„Heilung“ zugänglich sind. Und was wäre so verwerflich daran, wenn Homöopathen ganz zufällig und ohne spezielle Ausbildung „Experten“ in Sachen Placebo-Heilung wären? Und das auch noch in hochspezifischer Weise und ohne relevante oder schädliche Nebenwirkungen? Müsste man dann nicht erst recht allen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, Ordinarien und Fachspezialisten die Aufforderung Hahnemanns zurufen: „Macht’s nach, aber macht’s genau nach!“ Müsste dann nicht erst recht in eine intensive Lehr- und Forschungsaktivität münden, was angeblich so einfach ist, in die klassische akademische Medizin aber noch gar keinen Eingang gefunden hat: Krankheiten, auch schwere und chronische, einfach dadurch heilen, indem man ein ideales Setting schafft, ausreichend Zeit für empathisches Zuhören investiert und dann Zuckerkügelchen oder auch Mehlstaub appliziert, und siehe da, die Menschen werden – ganz ohne andere Eingriffe  – einfach nur gesund, „was man heilen nennt“ (Hahnemann)?

Wären da eben nicht die oben genannten ganz unterschiedlichen „Fische im Netz“, Fallverläufe, die so gar nicht zum schlichten Design von Placebo-Reaktionen passen! Es ist eben nicht so einfach, die Homöopathie ohne langjährige Praxiserfahrung und lediglich auf dem Boden theoretischer oder biomathematischer Überlegungen ad absurdum führen zu wollen. Die verschiedenen in Erscheinung tretenden Reaktions- und Verlaufsmuster unter homöopathischer Therapie lassen sich nicht damit erklären, dass es sich ausschließlich um Placebo-Effekte handelt Da müssten Kritiker schon noch ein paar dickere Bretter bohren, bevor man sie mit ihrer Kritik ernst nehmen könnte. Besser freilich wäre, wenn sich alle Beteiligten, Homöopathen, Wissenschaftler und Kritiker zusammen setzen würden in einem heilungsfördernden Setting und alle verblüffenden Phänomene, Unklarheiten und Widersprüche sorgfältig erörtern würden. Vielleicht wäre ein „Dialog“ im Sinne David Bohms hilfreich, um tatsächlich Erkenntnisse zu gewinnen, die über unser bisheriges Wissen zu Homöopathie und Placebo hinausweisen.