Von Dr. Andreas Zeuch

Am 12. Juni 2011 erschien im DZVhÄ-Blog ein Artikel über die Rolle des Wissens bei ärztlichen Leitlinien. Die Autorin Cornelia Bajic zitierte die Ergebnisse einer repräsentativen Studie, derzufolge Wissen einen überraschend kleinen Einfluss auf die Umsetzung von Leitlininen habe. Zur Erinnerung nochmals kurz die Ergebnisse in verdichteter Form.

Medizinische Leitlinien
„Nur 40 Prozent der … an der Studie teilnehmenden Ärzte verfügten definitionsgemäß über eine adäquate Leitlinienkenntnis. Trotzdem setzten Ärzte mit und ohne Leitlinienwissen die Empfehlungen in 12 von 16 Indikatoren nahezu gleich um. Vier Indikatoren wurden von Ärzten ohne „adäquate Leitlinienkenntnis“ sogar zu einem höheren Anteil erfüllt.

(Bajic, C. 2011: Medizinische Leitlinien: Wissen hat möglicherweise wenig Einfluss auf die ärztliche Leitlinienumsetzung. DZVhÄ Homöopathie.Blog, 12. Juni 2011).

Daraus leitete die Autorin eine zentrale Frage ab: „Führen demnach viele Wege nach Rom – neben Leitlinienwissen auch ärztliche Qualifikation, Erfahrung und Intuition?“ Die Antwort ist denkbar einfach: Ja. Die Frage nach dem warum ist indes ein wenig komplizierter. Genau darum geht es in diesem Artikel.

Vier Erklärungsmodelle

Es war der ungarische-britische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi, der die neurologische Tatsache unserer unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung hervorragend auf den Punkt gebracht hat. Seine Aussage, „wir wissen mehr, als wir sagen können“ (Polanyi, M. 1985), trifft den Kern dessen, was für die von Cornelia Bajic aufgeworfene Frage die passende Antwort ist.

Aus der Sicht der aktuellen Entscheidungs- und Intuitionsforschung ist es kein Wunder, sondern vielmehr vollkommen klar, dass Ärzte auch ohne bewusste Leitlinienkenntnis, über die sie in Tests etwas aussagen können, erfolgreiche Entscheidungen treffen. Nach dem heutigen Wissensstand können wir von mindestens vier Erklärungsmodellen intuitiver Entscheidungen ausgehen, die sich alle als selbstorganisierte Informationsverarbeitung ohne bewusstes Wissen zusammenfassen lassen.

1. Unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung

Der Kern dieses Paradigmas besteht darin, dass wir mehr Daten unbewusst wahrnehmen und verarbeiten, als bewusst. Das heißt auch, dass wir nicht nur bewusst lernen, sondern eben auch unbewusst. Historisch geht dieses Modell bis auf William James und Sigmund Freud zurück, denen es jedoch in den Anfängen an experimenteller Validierung mangelte. Später wurde dann ein prototypisches Experiment dazu durch den amerikanischen Psychologieprofessor Arthur S. Reber mit seiner Forschungsgruppe durchgeführt.

Ärztliche Leitlinien

Fotos: Sigmund Freud, William James – Quelle: WIKIMEDIA COMMONS

Das Experiment von Arthur S. Reber:
Die Versuchspersonen lernten in einer ersten Phase solange eine erfundene, künstliche Sprache in Form einer Zeichenfolge („XCTTRS“), bis sie einigermaßen aber nicht vollständig die grammatischen Regeln beherrschten. In Phase 2 wurden den Versuchspersonen einfache Sätze in dieser künstlichen Sprache vorgelegt. Sie sollten deren Korrektheit mit einem einfachen „Ja/Nein“ innerhalb weniger Sekunden beurteilen. Das Zwischenergebnis: Überzufällig viele Versuchspersonen lösten diese Aufgabe richtig! Dies könnte nicht der Fall sein, wenn wir nur bewusst wahrnehmen und Informationen verarbeiten würden, denn in der ersten Phase wurde den Versuchspersonen nicht alle Regeln bewusst vermittelt. Noch überraschender ist aber Folgendes: In Phase 3 sollten die Versuchspersonen erklären, warum der jeweilige Satz falsch oder richtig ist. Das Ergebnis: Überzufällig viele Personen beantworteten diese Frage falsch! Sie verfügten über korrektes Wissen, sie entschieden und verhielten sich richtig, aber sie konnten nicht erklären warum. Damit wird auch deutlich, dass bewusste Erklärungen von intuitiv-unbewussten Entscheidungen zu Fehlannahmen über kausale Zusammenhänge führen können.

Wir lernen und verarbeiten also erstens Informationen und Zusammenhänge unbewusst und können zweitens diese Informationen in Form unbewussten Wissens („tacit knowledge“) erfolgreich anwenden. Für die berufliche Praxis bedeutet dies, dass auch Anfänger erfolgreiche und richtige intuitive Entscheidungen treffen können.

2. Erfahrungswissen

Wie alle anderen berufstätigen Menschen auch, sammeln Ärzte im Laufe Ihrer beruflichen Tätigkeit unzählige Erfahrungen, die sie ebenso bewusst wie unbewusst verarbeiten. Je länger wir arbeiten, desto mehr Erfahrungswissen sammeln wir an. Dieses Erfahrungswissen steht uns dann in Form sogenannter Mustervergleiche („pattern matching“) zur Verfügung. Dies lässt sich gut an der Expertise von Schachgroßmeistern verdeutlichen. Im Gegensatz zum Anfänger hat der langjährig erfahrene Schachexperte bis zu 50.000 Spielsituation gespeichert. In einem Spiel wird dann die aktuelle Situation mit den gespeicherten Konstellationen abgeglichen, so dass der Experte in sehr kurzer Zeit wesentlich effektivere Spielzüge vollzieht, als es dem Anfänger trotz langen bewussten Nachdenkens je möglich wäre. Auch hier gilt: Der Experte kann die eigenen Spielzüge oft nicht erklären, sondern fühlt sie.

Allerdings gibt es bei der Expertenintuition ein Problem: Wir neigen dazu, die Erfolge der Vergangenheit in die Zukunft fortschreiben zu wollen. Dadurch kann es schnell zu Fehlentscheidungen kommen, weil wir mit dem unbewussten Mustervergleich relevante Unterschiede zwischen der aktuellen Situation und den gespeicherten (Erfolgs-) Erfahrungen übersehen. In der ungünstigsten Form machen wir aus unserer lebendigen, weil lernfähigen Expertise, eine innovations-feindliche Expertokratie. Will heißen: Wir halten unser bestehendes Wissen für der Weisheit letzten Schluss und übersehen Problemlösungen oder Erkenntnisse, die mit dem bestehenden Wissen in Konflikt stehen. Das klingt vielleicht etwas abstrakt, führt aber tatsächlich zu teils massiven Problemen. Ein gutes Beispiel kommt aus der Medizin selbst:

Es waren die beiden Ärzte Barry Marshall und Robin Warren, beide KEINE Gastroenterologen, die doch die tatsächliche Ursache für Magenschleimhautentzündungen und Magengeschwüre entgegen dem damals bestehenden Wissensstand herausfanden. Sie brauchten 26 Jahre, um sich mit Ihren empirisch fundierten Forschungsergebnissen gegen die Expertenwelt der Gastroenterologen durchzusetzen. Am Ende erhielten die beiden 2005 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie für ihre Entdeckung von Helicobacter Pylori und dessen ursächlicher Rolle bei den genannten Erkrankungen. Bis dahin ging die Fachwelt davon aus, dass die Ursache Stress, Alkohol und scharfe Speisen seien. Dies änderte auch den Behandlungsstandard von operativen Eingriffen hin zu einer einwöchigen Antibiose

3. Spiegelneurone

Im ersten Moment mag der Begriff sonderbar klingen, ist aber tatsächlich wissenschaftlich fundiert. Der italienische Physiologie-Professor Giacomo Rizzolatti fand mit seiner Arbeitsgruppe heraus, dass bei einem Menschenaffen, der einen anderen beobachtet, dieselben Hirnareale aktiviert werden wie bei dem beobachteten Affen. Konkret: Ein Affe nimmt eine Nuss, steckt sie in den Mund, kaut und schluckt sie. Beim beobachtenden Affen wurden nun dieselben motorischen Hirnareale aktiv wie bei dem, der die Handlungen tatsächlich ausführte. Dies schien ein gutes Erklärungsmodell für intuitive Empathie zu sein – und tatsächlich wurden Hinweise gefunden, dass man auch beim Menschen von der Existenz von Spiegelneuronen ausgehen kann.

Dieses Modell ist allerdings keine Erklärung für die eingangs zitierte Fragestellung, ob neben Leitlinien auch ärztliche Erfahrung und Intuition zum Ziel führen. Allerdings macht das Wissen um den Mechanismus der Spiegelneurone deutlich, warum Ärzte im Kontakt mit ihren Patienten sehr wohl auf Ihre Empathie achten sollten.

Wieso in der Kommunikation und Interaktion mit Patienten (und natürlich auch mit Kollegen) und beim sonstigen ärztlichen Handeln vage Gefühle, Körperwahrnehmungen, innere Bilder und Stimmen eine zentrale Rolle spielen, wissen wir mittlerweile durch das vierte Erklärungsmodell:

4. Somatische Marker

Der Begriff stammt von dem amerikanischen Neurologen Antonio Damasio und meint ganz allgemein eine den Körper betreffende Wahrnehmung. Dabei können alle Körperempfindungen, Gefühle und sogar innere Bilder oder Stimmen als somatische Marker fungieren. Somatische Marker lenken die Aufmerksamkeit entweder auf ein positives oder negatives Erlebnis, “das eine bestimmte Handlungsweise nach sich ziehen kann.” (Damasio 1997). Auf diese Weise nehmen wir eine Körperempfindung zum Beispiel als intuitives Start- oder Stoppsignal bezüglich einer bestimmten Entscheidung wahr.

Ärztliche Intuition

Foto: Antonio Damasio – Quelle: WIKIMEDIA COMMONS

Damit sind die Somatischen Marker das Bindeglied zwischen der unbewusst ablaufenden Wahrnehmung und Informationsverarbeitung einerseits und unserer bewussten Entscheidungsprozessen andererseits. Denn irgendwie muss die unbewusst ablaufende Intuition ins Bewusstsein kommen. Und das geschieht durch jene Somatischen Marker, die wir landläufig schon lange als „Bauchgefühl“ beschrieben haben. Das Konzept der Somatischen Marker macht aber vor allem eines deutlich:

Sobald die bewusste Verarbeitung emotionaler Prozesse gestört ist, kommt es, wie in verschiedenen Fällen von Damasio klinisch analysiert und dokumentiert, zu einer Art Entscheidungslähmung. Die betroffenen Personen bleiben stecken in der Meta-Entscheidung, sich jetzt nicht zu entscheiden. Und zwar vollkommen unabhängig davon, wie wichtig die anstehende Entscheidung ist.

Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang Damasios Fallstudie „Elliot“, einem ehedem äußerst intelligenten und erfolgreichen Manager, der nach einer Operation aufgrund eines Hirntumors die bewusste Verarbeitung seiner Emotionen einbüßte. Der Effekt war verheerend. Zuerst wurde Elliot arbeitslos, fand danach keine dauerhafte Anstellung mehr, geriet als Selbstständiger in die Hände von Betrügern, wurde aufgrund der Initiative seiner Frau geschieden und hatte zu guter Letzt noch die Steuerfahndung auf den Fersen. Das alles, weil er keine sinnvollen Entscheidungen mehr treffen konnte und im zwischenmenschlichen Kontakt nicht mehr in der Lage war, Freund und Feind zu unterscheiden.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass ärztliche Intuition auf neurologischen und kognitionspsychologischen Mechanismen beruht. Über diese verfügt erstens jeder Mensch und zweitens sind sie überhaupt die Grundlage erfolgreicher (rationaler) Entscheidungen. Dies ist auch durch einige Publikationen speziell über Intuition in der Medizin dokumentiert, die bis hin zu Untersuchungen über intuitive Entscheidungen beim intraoperativen Vorgehen reichen (s. Literaturverzeichnis).

In diesem Artikel sind indes noch nicht die möglichen Probleme durch intuitive Entscheidungen zur Sprache gekommen, die ich als „Intuitionsfallen“ bezeichne und die natürlich im Rahmen professioneller Entscheidungs-Kompetenz und -Kultur reflektiert und möglichst minimiert werden sollten.

Literatur

Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe
Ciompi, L. (1997): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Damasio (1997): Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv
Dreyfus, H. und Dreyfus, S. (1988): Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition. rororo
Gigerenzer, G. (2007): Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München: Bertelsmann
Polanyi, M. 1985: Implizites Wissen. Suhrkamp

Intuition in der Medizin

Ausfeld-Hafter, B. (Hg) (1999): Intuition in der Medizin. Grundfragen zur Erkenntnisgewinnung. Bern: Lang
Bechera, A. (2001): Neurobiology of decision-making: Risk and reward. Seminars in Clinical Neuropsychiatry, 6(3), 205-216
Rothmund, M.; Lorenz, W. (1990): Einflüsse der Intuition auf Indikationsstellung und intraoperatives Vorgehen. Langenbecks Archiv Chirurgie, Suppl. II, 1297-1302
Speich, R. (1997): Der diagnostische Prozes in der Inneren Medizin: Entscheidungsanalyse oder Intuition. Schweizer Medizinische Wochenschrift, 127, 1263-1279
Zeuch, A. (2008): Ärztliche Intuition. Teil 1: Intuition verstehen und als wertvolle Ressource nutzen. Frauenarzt, 49(3): 280-283
Zeuch, A. (2008): Ärztliche Intuition. Teil 2: Die eigene Intuition professionalisieren. Frauenarzt, 49(4)

Über den Autor

Dr. Andreas Zeuch ist Gründungspartner der beratergruppe sinnvoll • wirtschaften. Er promovierte 2003 zum „Training professioneller Intuition“ an der Universität Tübingen. Seit 1999 veröffentlicht er zahlreiche Artikel, sowie ein eigenes Weblog und ein Podcast über professionelle Intuition und den Umgang mit Unsicherheit und Unplanbarkeit. 2010 erschien sein aktuelles Buch „Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen“.

Zeuch sammelte vor seiner Beratertätigkeit mehrere Jahre klinische Erfahrung als Musiktherapeut in der Onkologie, Psychiatrie und im Strafvollzug. 2001 – 2003 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universitätsklinik Heidelberg für die Curriculumsentwicklung mitverantwortlich.

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